Erhaltung des Negativitätsbedarfs

[Der] vierte kulturdynamische Erhaltungssatz ist der Satz der Erhaltung des Negativitätsbedarfs. Wo Kulturfortschritte wirklich erfolgreich sind und Übel wirklich ausschalten, wecken sie selten Begeisterung: sie werden vielmehr selbstverständlich, und die Aufmerksamkeit konzentriert sich dann auf jene Übel, die übrigbleiben. Dabei wirkt das Gesetz der zunehmenden Penetranz der Reste: Je mehr Negatives aus der Wirklichkeit verschwindet, desto ärgerlicher wird – gerade weil es sich vermindert – das Negative, das übrigbleibt. Knapper werdende Güter werden immer kostbarer: sie werden immer plagender, und Restübel werden schier unerträglich (darum ängstigen heute weniger die Risiken, viel mehr die Restrisiken). Wer – fortschrittsbedingt – unter immer weniger zu leiden hat, leidet unter diesem Wenigen immer mehr; er ähnelte der „Prinzessin auf der Erbse“, die, weil sie unter nichts Anderem mehr zu leiden hatte, nun unter einer Erbse litt.

via Stattdessen (1999, S.37f.)

3 Reaktionen auf “Erhaltung des Negativitätsbedarfs

  1. k.

    das hieße doch, dass leid eine rein subjektive erfahrung ist und jeder mensch ein bestimmtes maß des leiderlebens „braucht“ – ganz unabhängig von äußeren umständen. sehr deterministisch, gefällt mir nicht.

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  2. dasaweb Beitragsautor

    Das ist absolut gesehen natürlich nicht so, auch erlebt jeder ja Höhen und Tiefen, was bei einem starren Erhaltungssatz nicht möglich wäre. Seine Beschreibung mit Risiken und Restrisiken finde ich trotzdem spannend, und ich beobachte das ja bei mir selbst: Schwieriger zu beobachten ist, dass Negatives hochskaliert wird, wenn anderes wegfällt. Bekannt ist einem eher der umgekehrte Fall, nämlich dass bisher negativ empfundene Dinge relativiert werden, wenn andere, größere hinzukommen. Und der zweite Fall zeigt ja, dass der erste auch stattfindet, wenn auch eben weniger bewusst.

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