[Der] vierte kulturdynamische Erhaltungssatz ist der Satz der Erhaltung des Negativitätsbedarfs. Wo Kulturfortschritte wirklich erfolgreich sind und Übel wirklich ausschalten, wecken sie selten Begeisterung: sie werden vielmehr selbstverständlich, und die Aufmerksamkeit konzentriert sich dann auf jene Übel, die übrigbleiben. Dabei wirkt das Gesetz der zunehmenden Penetranz der Reste: Je mehr Negatives aus der Wirklichkeit verschwindet, desto ärgerlicher wird – gerade weil es sich vermindert – das Negative, das übrigbleibt. Knapper werdende Güter werden immer kostbarer: sie werden immer plagender, und Restübel werden schier unerträglich (darum ängstigen heute weniger die Risiken, viel mehr die Restrisiken). Wer – fortschrittsbedingt – unter immer weniger zu leiden hat, leidet unter diesem Wenigen immer mehr; er ähnelte der „Prinzessin auf der Erbse“, die, weil sie unter nichts Anderem mehr zu leiden hatte, nun unter einer Erbse litt.
via Stattdessen (1999, S.37f.)