Wie ich auf diesen Zeit-Artikel von 1998 (!) gestoßen bin kann ich nicht mehr sagen, ich hab ihn vor ein paar Tagen in meiner Pocket-Liste gefunden und gelesen. Ein Gespräch von Bernhard Pörksen mit dem Physiker und Philosophen Heinz von Foerster, welches auch in ausführlicher Buchform erhältlich ist. Kurz gesagt geht es um die Frage, ob es eine Wirklichkeit gibt, eine allgemeingültige und unabhängige Wahrheit. Fragen, die ich im Übrigen in der wisschenschaftlichen Ausbildung an der Uni mehr als vermisst habe.
Ich will hier gar nicht inhaltlich tief einsteigen (und könnte das vermutlich auch nicht), sondern lediglich fünf (zusammenhanglose) Ausschnitte zitieren. Als Appetitanreger sozusagen:
PÖRKSEN: Sie glauben nicht an die endgültige Verifizierung einer Hypothese?
VON FOERSTER: Nein, überhaupt nicht. Was möglich ist, da folge ich dem Philosophen Karl Popper, dem ich sonst längst nicht in allem zustimme, ist allein die Falsifizierung von Hypothesen: Diese können sich als falsch, aber nicht in einem absoluten Sinn als richtig erweisen. Aber in dem Moment, in dem man von Wahrheit spricht, entsteht ein Politikum, und es kommt der Versuch ins Spiel, andere Auffassungen zu dominieren und andere Menschen zu beherrschen. Wenn der Begriff der Wahrheit überhaupt nicht mehr vorkäme, könnten wir vermutlich alle friedlich miteinander leben.
PÖRKSEN: Was bleibt, ist ein ganz und gar unspektakuläres Erkenntnismotiv. Es geht allein um das Funktionieren – und nicht um die absolute Wahrheit.
VON FOERSTER: Aber dieses Funktionieren läßt sich doch als eine Serie von Wundern begreifen, die man feiern, über die man sich freuen kann. Es geht darum, nicht zu stolpern in dieser Welt. Und wenn uns dies gelingt, wäre das doch schon Anlaß genug, um gemeinsam eine Flasche Champagner zu entkorken.
Wenn dieser Mensch aber sagt, daß er die Wahrheit gefunden hat, wird er zu einem gefährlichen Tier. Auch die Behauptung einer allmählichen oder asymptotischen Wahrheitsannäherung ist mir unheimlich, weil hier immer schon das Wissen darüber vorausgesetzt wird, wo sich dieses vermeintliche Fernziel befindet.
Wäre es nicht möglich, so denke ich manchmal, den Verweis auf die Wahrheit durch die Idee des Vertrauens zu ersetzen: Schon das englische Wort für Wahrheit, truth, geht, wenn man die Wortgeschichte analysiert, auf den Begriff der Treue und des Vertrauens, trust, zurück. Wenn ich die Wahrheit als ein Vertrauen von Mensch zu Mensch begreife, dann brauche ich keine externen Referenzen mehr. Dann kann ich das, was er sagt, einfach hinnehmen, weil wir uns gegenseitig treu sind. Es ist nicht mehr die Frage, wer recht hat, wer lügt, sondern ob man dem anderen vertraut, ob man sich auf ihn verlassen kann. Wenn er mir sagt, daß die Klapperschlangen den Radetzkymarsch spielen, dann frage ich gar nicht, ob sie das wirklich tun. Ich vertraue ihm einfach, ich glaube ihm. Auf diese Weise entsteht eine vollkommen andere Relation.
Für mich ist diese Sicherheit des Absoluten, die einem Halt geben soll, etwas Gefährliches, das einem Menschen die Verantwortung für seine Sicht der Dinge nimmt. Mein Ziel ist es, eher die Eigenverantwortung und die Individualität des einzelnen zu betonen. Ich möchte, daß er lernt, auf eigenen Füßen zu stehen und seinen persönlichen Anschauungen zu vertrauen. Mein Wunsch wäre es, dem anderen zu helfen, seine ganz eigenen Vorstellungen, seine eigenen Gedanken, seine eigene Sprache zu entwickeln, ihm zu helfen, seine Beobachtungsgabe zu schärfen, seine eigenen Augen und Ohren zu benutzen. Natürlich gibt es Menschen, die davon nichts wissen wollen und meinen, nicht ohne ein Dogma auszukommen, das ihnen vorgibt, wie sie zu sehen, zu hören und zu sprechen haben. Das sind Monotänzer, mit denen man keinen gemeinsamen Tanz, keinen gemeinsamen Dialog beginnen kann.
PÖRKSEN: Manche Menschen empfinden Ihre These zweifellos als eine Provokation. Vor einigen Jahren ist einmal in einer christlichen Wochenzeitung ein Interview mit Ihnen erschienen, das eine ganze Reihe erboster Leserbriefe provoziert hat: Viele der Briefeschreiber fühlten sich ganz offensichtlich durch diesen Abschied von einem Wahrheitsideal, das auch im Zentrum religiöser Vorstellungen steht, verletzt. Einer der Schreiber nannte Sie den „großen Verwirrer“. Das ist ein Bibelzitat: Die Rolle des großen Verwirrers spielt der Teufel.
VON FOERSTER: Nun, das klingt ja wenig schmeichelhaft. Allerdings möchte ich darauf hinweisen, daß ich eine etwas andere Vorstellung vom Teufel habe. Der Teufel ist für mich nicht der große Verwirrer, sondern der große Vereinheitlicher: Er versucht, die verschiedenen Ansichten zu homogenisieren, bis alle dasselbe denken, glauben und tun. Das ist das eigentlich Gefährliche. Der Verwirrer erweitert dagegen das Blickfeld, er eröffnet neue Möglichkeiten und macht die Fülle sichtbar. Ich kann den Verfasser dieses Briefes beruhigen: Es ist ein guter Geist, der verwirrt.
Interessant? Dann kannst du hier das ganze Gespräch lesen. Oder gleich das ganze Buch. Falls du lesefaul bist kannst du dir auch dieses kleine Interview anschauen, da bekommt man auch einen guten Eindruck von dem damals neunzigjährigen Heinz von Foerster (am besten ab Minute 5:08):
https://www.youtube.com/watch?v=PcPtl-vuGbI&t=308
Danke, sehr interessantes Interview!
Auch das hebräische Wort „emet“ hält übrigens diese Doppelbedeutung von Wahrheit/Treue/Verlässlichkeit in sich, ein Aspekt der in der deutschen Sprache leider gar nicht zur Beachtung kommt.